Ist der Sozialstaat zu teuer?

"Hart aber Fair"- Kritik an Bürgergeld-Plänen: "Wir können uns diese unsoziale Politik nicht mehr leisten"

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von Claudia Frickel

Zu Gast bei Louis Klamroth: Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen): Bundestagsabgeordnete und frühere Parteivorsitzende.

Bild: WDR/Thomas Kierok


Fünf Milliarden Euro will Kanzler Friedrich Merz beim Bürgergeld sparen. "Diejenigen, die wenig haben, werden noch ärmer, und diejenigen, die sehr viel haben, werden geschützt", sagt Grünen-Politikerin Ricarda Lang bei "Hart aber Fair". Ein Jobcenter-Geschäftsführer von der CDU hat eine Idee, wie ganz ohne Kürzungen viel Geld gespart werden könnte.

"Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse" und "können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten", hatte Bundeskanzler Friedrich Merz Anfang September auf dem CDU-Landesparteitag in Nordrhein-Westfalen gesagt. Aber wer ist eigentlich wir? Das fragte "Hart aber fair"-Moderator Louis Klamroth am 15. September bei "Hart aber Fair". Grünen-Politikerin Ricarda Lang hatte den Satz von Merz bei Social Media mit einem Foto von Merz in seinem Privatjet gekontert.

"Wenn Friedrich Merz von 'wir' spricht, meint er häufig nicht Menschen seiner Einkommensklasse und noch viel weniger diejenigen, die riesige Vermögen oder Erbschaften haben - sondern die, die ohnehin schon wenig haben", kritisierte Lang bei "Hart aber Fair". Sie stellten den Sozialstaat als Ganzes in Frage. Aber nicht diesen könnten "wir uns nicht mehr leisten", sondern "diese unsoziale Politik".

Das sieht Katja Kipping ähnlich. Die Pläne würden die "Ärmsten der Armen" treffen, erklärte die Linken-Politikerin und Geschäftsführerin des Wohlfahrtsverbands "Der Paritätische".

Sie hatte Zahlen mitgebracht: Wie viel Geld stand einem armen Haushalt im Jahr 2020 und 2024 zur Verfügung? 2020 waren es durchschnittlich 981 Euro, 2024 inflationsbedingt 921 Euro - also deutlich weniger. Ausgerechnet in dieser Situation aus den Ärmsten "noch mehr rauszuquetschen", wäre "wirklich der falsche Weg".

Bundeskanzleramtschef Throsten Frei verteidigte die Aussagen von Merz dagegen vehement. Die Koalition wolle "die Zielgenauigkeit beim Sozialstaat verbessern". Es könne "uns nicht zufriedenstellen, dass 5,5 Millionen Menschen in unserem Land Bürgergeld beziehen". Er schloss nicht aus, dass die Grundsicherung ganz wegfallen könnte - für „Menschen, die das Geld gar nicht brauchen", wie er sagte. Gemeint sind die sogenannten Totalverweigerer. Aber wer ist das eigentlich?

Wer bezieht eigentlich Bürgergeld und wie viele Totalverweigerer gibt es?

Unter den 5,5 Millionen Bürgergeld-Bezieher:innen stehen 2,7 Millionen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Das sind beispielsweise Kinder, Schwerkranke oder Auszubildende. 830.000 Menschen stocken mit dem staatlichen Geld ihr geringes Einkommen oder andere Leistungen auf.

1,9 Millionen sind tatsächlich Erwerbslose. Darunter sind 900.000 Langzeitarbeitslose.

Wenn von "Totalverweigerern" die Rede ist, sind Bürgergeld-Empfänger:innen gemeint, die wiederholt und ohne triftige Gründe zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungen ablehnen.

Wie viele Menschen das genau sind, ist statistisch nicht exakt erfasst. Laut Bundesagentur für Arbeit gab es 2023 rund 16.000 Sanktionen wegen Arbeitsverweigerung, also Kürzungen. Das betrifft also 0,4 Prozent aller Empfänger:innen - eine "verschwindend geringe Zahl", wie Matthias Miersch, Vorsitzender der SDP-Fraktion im Bundestag, bei "Hart aber Fair" sagte.

Mit Bürgergeld erhält ein:e Alleinstehende:r aktuell 563 Euro pro Monat. Dazu kommt die Miete.

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Wie beim Bürgergeld gespart werden könnte - ganz ohne Kürzungen

90.000 Menschen betreut das Jobcenter in Dortmund, dessen Geschäftsführer Marcus Weichert ist. Er ist auch CDU-Mitglied, hat aber andere Ideen als Merz und Frei. Die Hälfte der Arbeitszeit seiner 1.000 Mitarbeiter:innen gehe "für Dokumentation und Bürokratie drauf, die wir uns nicht selbst auferlegt haben". Wenn diese Aufgaben nur noch 20 statt 50 Prozent der Zeit einnehmen würden, "könnten wir mittelbar viel einsparen, was auf lange Sicht deutlich nachhaltiger ist".

Weichert kritisierte auch den "Vermittlungsvorrang", den die Koalition zurückbringen will. Demnach sollen Menschen angebotene Arbeit möglichst schnell annehmen, sonst drohen Kürzungen. Seiner Meinung nach geht das jedoch nicht auf: Zwei Drittel bis drei Viertel der Betroffenen habe keine Qualifizierung oder abgeschlossene Ausbildung. Es gebe aber nur 10 bis 15 Prozent Stellen für Unqualifizierte. "Der Großteil" wäre damit immer noch nicht in Arbeit, "das kann nicht Sinn der Übung sein", sagte er.

Er plädierte stattdessen dafür, solche Menschen zu qualifizieren und weiterzubilden. Was im Einzelfall passieren solle, könnten Jobcenter vor Ort besser entscheiden. Wie das Prinzip des Vermittlungsvorrangs genau aussehen könnte, ließ Thorsten Frei offen. Es solle eine pragmatische Lösung gefunden werden.

Katja Kipping wies am Ende darauf hin, dass viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, Scham empfinden würden. Ein Grund dafür sei, wie führende Politiker:innen über sie sprechen würden. Seit dem Amtsantritt der Koalition habe sie keine einzige empathische Wortmeldung gehört, die Bezug auf die Sorgen und Nöte der Ärmsten nehme. Stattdessen werde der Eindruck erweckt, "dass alle, die Sozialleistungen beziehen, eigentlich total faul sind".

"Hart aber fair": Polit-Talk mit echtem Schlagabtausch

Ein aktuelles und umstrittenes Thema aus Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft steht immer im Mittelpunkt von "Hart aber fair". 75 Minuten lang diskutiert Louis Klamroth live mit seinen Gästen. Einspieler erklären, worum es geht und liefern Hintergrund-Informationen. Zu Wort kommen in der Polit-Talkshow immer auch Bürger:innen oder Betroffene.

Dabei kommt es nicht selten zwischen den Gästen zu hitzigen Diskussionen und Wortgefechten. Überzeuge dich selbst. Bei uns kannst du live zusehen, montags um 21 Uhr.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf Joyn.de ('Behind the Screens' Deutschland) veröffentlicht.

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