Spektakuläre Kriminalfälle

Nach 8,5 Jahren im Horrorhaus: Wie Natascha Kampusch die Flucht aus dem Kellerverlies gelang

Aktualisiert:

von Claudia Frickel

Mit zehn Jahren wird sie entführt und anschließend 3.096 Tage in einem Verlies eingesperrt. Natascha Kampuschs Schicksal zählt zu den spektakulärsten Kriminalfällen Europas - auch weil die Polizei bei den Ermittlungen mehrfach versagte.

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Natascha Kampusch: Die Entführung und die unglaublichen Ermittlungspannen

Am 2. März 1998 macht sich die zehnjährige Natascha Kampusch in Wien auf den Weg zur Schule. Doch dort kommt sie nie an: Ein Mann zerrt sie in einen weißen Kleintransporter und fährt davon.

Das Verschwinden des Kindes löst die längste und intensivste Fahndungsaktion in der Geschichte Österreichs aus. Überall im Land hängen Plakate. Die verzweifelten Eltern denken zunächst, dass Natascha wegen eines kleinen Streits weggelaufen ist.

Doch dann meldet sich eine Zeugin: Eine Schulkameradin hat gesehen, wie das Mädchen in den Transporter gezogen wurde. Die Polizei überprüft über 1.000 Fahrzeughalter - darunter auch Wolfgang Přiklopil. Der Mann lebt in einem Einfamilienhaus in Strasshof, 17 Kilometer von Wien entfernt.

Er hat kein Alibi und gibt an, dass er zum Zeitpunkt der Entführung allein zu Hause gewesen sei. Die Ermittler:innen sehen sich sogar das Innere des Transporters an. Aber Přiklopil fällt durchs Raster. Dabei hat der damals 35-Jährige Natscha nicht nur gekidnappt, sondern er hält sie in einem selbst gebauten Verlies in seinem Keller gefangen.

Dann kommt es zum nächsten "schweren Ermittlungsfehler", wie Strafrechtler Alexander Stevens bei "Deutschlands spektakulärste Kriminalfälle" erklärt. Acht Wochen nach der Entführung meldet sich ein Polizist aus der 7.000-Einwohner-Gemeinde Strasshof bei der SOKO. In seiner Nachbarschaft wohne ein verdächtiger Mann mit weißem Transporter, der ein merkwürdiges Verhältnis zu Kindern habe. Doch die Kriminalpolizei geht dem Hinweis nicht nach. "Eine Nachprüfung hätte zu einer früheren Befreiung führen können", meint Stevens.

Aber das passiert nicht - und Natascha bleibt mehr als acht Jahre lang gefangen. Erst am 23. August 2006 gelingt ihr die Flucht. In den 3.096 Tagen ihrer Gefangenschaft musste sie Entsetzliches durchmachen.

Natascha Kampusch sitzt 2019 auf einer Bank in einem Park.

Bild: picture alliance/dpa


Das Martyrium im Kellerverlies

Nur fünf Quadratmeter groß ist das Verlies, in dem der Täter Natascha einsperrt. Er hat es in einer Grube unter der Garage angelegt. Drei Türen verbergen den Eingang, unter anderem eine 150 Kilo schwere Betontür.

Das Mädchen kann gerade mal sechs Schritte in die eine und vier Schritte in die andere Richtung gehen. In dem Raum befinden sich eine Matratze, ein Waschbecken und eine Toilette. Es gibt kein Fenster und kein Tageslicht, alles ist schimmelig, kalt und feucht.

"Ich frage mich bis heute, wie sie das ausgehalten hat", sagt Experte Stevens. "Ohne jeden sozialen Kontakt, weder zu Gleichaltrigen noch zur Familie."

Sie muss ein jahrelanges Martyrium aus körperlicher Gewalt und Demütigungen erleiden. "Ihre Kindheit war schlagartig vorbei", erklärt Kriminalpsychologe Christian Lüdke in der Reportage.

Es war wie Alcatraz. Noch schlimmer: wie ein Atombunker

Natascha Kampusch

Erst Jahre später darf sie immer mal wieder nach oben ins Haus - aber meist nur, um dort zu kochen und zu putzen. Dann sperrt Přiklopil sie wieder ein. Natascha ist "ihm vollkommen ausgeliefert", beschreibt Lüdke. Um zu überleben, beschließt sie notgedrungen, eine persönliche Bindung zu ihm aufzubauen.

Im Lauf der Zeit erkämpft sie sich so kleine Freiheiten. Er bringt ihr Bücher, Zeitungen und ein Radio. Dann darf sie ab und zu ein paar Minuten lang in den Garten.

Dort sehen sie sogar Nachbar:innen und sprechen den Mann darauf an. Aber niemand schaltet die Behörden ein. Auch Přiklopils Mutter ahnt nichts, obwohl sie jeden Sonntag zu Besuch kommt.

Die Jugendliche gibt jedoch nie auf - und wartet auf den richtigen Moment, um zu fliehen. "Sie wusste ganz genau: Sie hat nur einen Versuch, und wenn der schiefläuft, kommt sie nie wieder heraus", erklärt Ex-Nachrichtensprecher und Zeitzeuge Jan Hofer.

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So gelingt Natascha Kampusch die Flucht - und das macht sie heute

Am 23. August 2006 saugt Natascha das Auto von Wolfgang Přiklopil, der sie dabei beobachtet. Als er einen Anruf bekommt, ist er abgelenkt und entfernt sich ein paar Meter. Diesen Augenblick nutzt sie aus und rennt in panischer Angst davon.

Verzweifelt bittet sie mehrere Menschen um Hilfe, aber niemand greift ein. Dann klopft sie an die Tür einer Rentnerin, die zum Glück die Polizei alarmiert. "Sie zitterte am ganzen Körper", erinnert sich die Frau später. Nach über 3.000 Tagen in Gefangenschaft ist Natascha endlich frei.

Noch am selben Tag bringt sich der Entführer um.

Die 18-Jährige kämpft sich zurück ins Leben. Sie schreibt mehrere Bücher und gibt Interviews. Heute lebt sie als Schmuckdesignerin in Wien.

Trotz ihrer furchtbaren Erfahrungen schlägt ihr nach ihrer Flucht auch Hass entgegen. "Manche konnten nicht ertragen, dass sie kein typisches Opfer war", sagt die True-Crime-Podcasterin Franziska Singer. In der Reportage erzählt sie, wie ihr als Kind die Fahndungsplakate mit Nataschas Gesicht Angst einjagten.

In der Sendung kommen weitere Zeitzeug:innen und Expert:innen zu Wort. Außerdem siehst du Originalbilder des Verlieses und Interviewauszüge mit Natascha Kampusch. Und nicht zuletzt erfährst du, wieso sie später ausgerechnet das Haus erbte, in dem sie gefangengehalten wurde - und was sie damit macht.


Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf Joyn.de ('Behind the Screens' Deutschland) veröffentlicht.

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