PISA-Sieger
Linda Zervakis nimmt Singapurs teures Nachhilfe-System unter die Lupe: 4.000 Euro pro Monat
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von Claudia FrickelBildungsstaat Singapur: Hier wird auf frühe Bildung im Babyalter gesetzt.
Bild: ProSieben
Starke Leistungsorientierung in der Schule, frühe Förderung, teure Nachhilfe: Mit dieser Kombination sicherte sich Singapur mehrmals Spitzenplätze beim PISA-Ranking. Wie das in der Praxis aussieht, die Schattenseiten und welche skurrilen Auswüchse die frühe Förderung annehmen kann, schaut sich Linda Zervakis vor Ort an.
Singapur: Wie Bildung in dem Stadtstaat aussieht
Noch in den 1960er-Jahren konnte die Hälfte der Menschen in Singapur nicht lesen und schreiben. Doch inzwischen gilt der Stadtstaat als Vorbild, was Bildung angeht: Er stand beim PISA-Ranking zweimal an der Spitze, auch bei der letzten Erhebung 2022. Weitere Male sicherte sich das Land zweite Plätze. Seine Schüler:innen gehören weltweit zu den besten in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz.
"Bildung hat einen sehr großen Stellenwert hier", erklärt Michael Klemm, der ein Bildungsnetzwerk in Singapur und Indonesien leitet. Die Unterschiede zu Deutschland sind groß: Schulen sind sehr gut ausgestattet, etwa mit digitaler Infrastruktur. Der Beruf "Lehrer:in" ist angesehen und gut bezahlt. Lehrkräfte werden kontinuierlich weitergebildet.
Das System ist stark auf die PISA-Bereiche Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz ausgerichtet.
Allerdings ist der Druck extrem hoch. Schüler:innen müssen viel leisten, es gibt regelmäßige Tests und hohe Standards. Zwar sind öffentliche Schulen kostenlos. Aber wegen der hohen Anforderungen gehen 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen zur Nachhilfe.
Ganze 650 private Nachhilfeinstitute gibt es in der Sechs-Millionen-Stadt. Umgerechnet 1 Milliarde Euro pro Jahr geben die Menschen dafür aus.
Die Eltern des 16-jährigen Xavier zahlen jeden Monat 4.000 Euro für die Extrastunden. In fünf Fächern bekommt er Unterstützung. "Ich hoffe, dass ich hier noch besser lerne als in der Schule", erzählt der Teenager Linda Zervakis in ihrer neuen Reportage" Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise!". Sein Vater Simon hofft, dass der Sohn "einen guten Abschluss macht und Arzt oder Tierarzt wird". Xavier ist sich nicht sicher - er will eigentlich "raus aus dem Stress und Druck". Zeit für Hobbys hat er nur am Wochenende, oder um 10 Uhr abends, nach dem Lernen.
Nachhilfe gehört hier fast zum Lifestyle
Alles ist in Singapur auf die Ausbildung der Kinder ausgerichtet. Viele Mütter nehmen sich sogar ein halbes Jahr oder länger frei von der Arbeit, erzählt Timothy Joshua Chia, dem ein Nachhilfeinstitut in Singapur gehört. "Sie kümmern sich nur darum, dass sich die Kinder optimal auf ihre Tests vorbereiten, gesund essen und ausreichend schlafen."
Linda Zervakis ist verblüfft über das, was sie in Singapur zu sehen bekommt - und teilweise geschockt. Auf dem Markt entdeckt sie zum Beispiel Rohrstöcke: Die körperliche Züchtigung von Kindern ist immer noch erlaubt.
"Das ist echt eine andere Welt hier", sagt sie - auch in Bezug auf die Förderung der Allerkleinsten.
Bei Nacht erleuchten die Gardens by the Bay und das Hotel Marina Bay Sands.
Bild: picture alliance / Amazing Aerial Agency
Bildung beginnt in Singapur nämlich bereits bei den Allerkleinsten. Schon im Kindergarten wird Wert auf Zweisprachigkeit gelegt, alle Kinder lernen dort Englisch.
Aber in privaten Einrichtungen kommen auch ungewöhnliche Methoden zum Einsatz. In einer Krabbelgruppe werden Kleinkinder in Höchstgeschwindigkeit beschallt: Eine Erzieherin rattert in rasendem Tempo Zahlen herunter und zeigt parallel Bilder oder rechnet auf dem Abakus.
Die private Einrichtung will damit die rechte Hirnhälfte der Kleinen stimulieren. Das Training basiert auf der japanischen Heguru-Methode, die damit unter anderem Gedächtnis, Kreativität, Konzentration und schnelle Informationsverarbeitung fördern will. Bis zu einem Alter von sechs Jahren könne man das am besten üben, erzählt der Leiter des Instituts. Nach dem Zusehen stellt Linda Zervakis allerdings fest: "Ich fühle mich schon nach wenigen Minuten so, als hätte jemand meine rechte Hirnhälfte in eine Mikrowelle gesteckt."
Die Mütter Sandra und Vanessa hoffen, dass ihre sieben Monate alten Babys von dem Programm profitieren. Sie kommen mit den Kleinen regelmäßig in die Krabbelgruppe, damit sie "eine schnellere Auffassungsgabe bekommen". Schließlich seien die Anforderungen an die Kids schon in der Grundschule hoch.
Die Einrichtung ist erfolgreich: Bald gibt es sieben Ableger in Singapur, die Warteliste ist lang. Wissenschaftlich bewiesen sind die Effekte aber nicht.
Der extreme Wandel von Singapur – vor allem dank starker Bildung
Singapur hat einen rasanten Wandel hingelegt: Nach der Trennung von Malaysia 1965 war der unabhängige Stadtstaat ein armes Land mit hoher Arbeitslosigkeit, wenig Industrie und vielen Analphabet:innen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte es sich zu einem der reichsten Staaten der Welt - mit einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote. Sechs Millionen Menschen leben heute im Stadtgebiet, auf einer Fläche ungefähr so groß wie Hamburg.
Bildung spielte eine Schlüsselrolle im Aufstieg der südostasiatischen Stadt. "Singapur ist eine kleine Insel und hat keine Bodenschätze", erklärt Bildungsexperte Michael Klemm. Die Regierung führte eine Pflichtschule ein und baute ein flächendeckendes Schulsystem auf. Die Lehrpläne wurden konsequent auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet.
Als Finanz- und Handelszentrum braucht Singapur gut ausgebildete Menschen.
Schon früh setzte Singapur auf Weiterbildung und Umschulung, um Arbeitskräfte flexibel an neue Branchen anzupassen. Durch viele konsequente Reformen entwickelte sich der kleine Staat zu einem PISA-Spitzenland.
Wie ein 11-Jähriger Linda Zervakis bei einem Test abhängt und wie die Kleinsten in der Krabbelgruppe auf ihr Hochgeschwindigkeitstraining reagieren, siehst du in der Reportage "Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise". Du kannst sie auf Joyn streamen.
Hier kannst du die Reportage anschauen
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Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf Joyn.de ('Behind the Screens' Deutschland) veröffentlicht.
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